Ein 2500 Jahre altes Beispiel

Vor etwa zweieinhalbtausend Jahren brüstete sich Perikles

in seiner "Grabrede" mit seiner Heimat, weil die Athener
nicht nur die schriftlichen sondern insbesondere die
ungeschriebenen Gesetze achteten.

Und er hatte schon Recht darauf stolz zu sein.

Denn für die Einhaltung der geschriebenen
Gesetze ist keine große Tapferkeit nötig.

Wenn du sie nicht einhältst, dann packt dich der Gendarm.

Textfeld: Die Einhaltung der ungeschriebenen Gesetze, das ist das Besondere.

Das setzt die Existenz einer Kraft voraus,
die größer als die des Polizisten ist.

Einer Kraft, die manche in sich tragen und andere
aus der Gesellschaft schöpfen, in der sie leben.

Und die Gesellschaft in der Zeit von Perikles,

die besaß diese Kraft.

Was sind sie jedoch, diese ungeschriebene Gesetze?

Nichts anderes als die allgemeine Einstellung der
Gesellschaft über bestimmte Verhaltensweisen.

Zum Beispiel, in dem damaligen Athen,

so wie auch an anderen Orten oder zu anderen Zeiten,
forderte das ungeschriebene Gesetz  die Schlichtheit.

Hier lohnt es sich vielleicht,

uns an eine anmutige Episode aus Platons "Symposion"
zu erinnern, wo Alkiviades seine Bewunderung für Sokrates
beschreibend erwähnt, dass Sokrates Sommer und Winter
nur das eine Kleidungsstück trug.

Mit dem gleichen Kleid im Sommer und Winter leben zu können,
galt damals als bewunderungswürdig.

Heute gebührt einem umso größere Bewunderung

je mehr Kleider man besitzt und zwar Kleider mit der
Kennzeichnung der verschiedenen Modeschöpfer. 

Da kann mir jemand natürlich sagen:

Wenn du die innere Welt von Sokrates hast,
wozu brauchst du die vielen Kleider?

Du spürst weder Kälte noch Hitze,

dir reicht nur ein Chiton aus.

Textfeld: Wenn du das Bewusstsein deiner inneren Leere hast, dann bist du gezwungen, dich mit fremden Federn und Häuten zu schmücken.

Es war damals eine Schande, im Luxus
zu leben.

"Φιλοκαλούμεν μετ' ευτελείας"

(wir lieben das Schöne mit Einfachheit)

brüstete sich Perikles.

Zum Beispiel der Prunk bei den Bauten,

obwohl er für die öffentlichen Gebäuden die Regel war,

galt er als absolut verpönt für ein Privathaus.

Wenn jemand sich trauen würde,

in seinem Haus den kleinsten Pomp einzubauen,
würde die öffentliche Meinung sofort sagen:

"Schaut mal die Angabe, er schmückt sein
Haus wie ein öffentliches Gebäude".

Und natürlich traute sich niemand,

weil Athen damals ein Dorf war, und jeder
jeden und seine Lebensweise kannte.

Und es bestand noch die Gefahr,

dass Aristophanes dich in einer seiner Komödien
bloßstellen würde, und dann konntest du nirgendwo
eine geeignete Stelle finden, um dich vor Scham
zu verstecken.

Eins der erschreckendsten Symptome

der Schwerstkrankheit der heutigen Gesellschaft ist,
dass die Scham abhanden gekommen ist.

Textfeld: "Η μεγίστη των εν ανθρώποις νόσων πασών, αναίδεια" 
(Die größte der bei den Menschen Krankheiten allen, Schamlosigkeit), sagte Euripides. 
Eine schlimmere Krankheit als die Scham zu verlieren, 
gibt es für den Menschen nicht.

Schaut euch um:

Politiker, Professoren, Journalisten, einfache Leute
schämen sich nicht, in demonstrativem Luxus zu leben,
zu lügen, die Steuer zu hinterziehen, das öffentliche
Geld zu verschwenden oder gar in die eigene Tasche
zu stecken.

Und falls sie geschnappt werden,

nehmen sie noch Positur und spielen sich als Zensoren
und Hüter der Ehrlichkeit auf, als ob sie noch stolz auf
ihre Verdienste wären.

Und manche Naiven

bewundern sie noch obendrauf für ihre "Gewandtheit".

Es spielt keine Rolle, wie sie zu so viel Geld gekommen sind.

Wenn sie so viel Geld haben, dann sind sie zu bewundern.

Die Gesellschaft in der Zeit von Perikles und Euripides war gesund,
und in solchen Gesellschaften ist der "Ehrenkodex", der denjenigen auferlegt wird,
die die allgemeine Anerkennung haben wollen,
viel strenger als das Gesetz, das der Gendarm durchsetzt.

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