Die neuzeitliche Religion
Wer hatte Interesse daran, den Egoismus und die Habgier
zu pflegen
und zu gigantisieren, während
gleichzeitig die Liebe,
die Freundschaft und der Respekt für den Menschen
und die Natur zum Schwinden und letzen Endes zur
Vergessenheit gerät?
Warum galt schon seit der Epoche der ersten
Gemeinschaften bis vorgestern
in allen gesunden Gesellschaften die Bescheidenheit
und die Selbstzügelung als Tugend, und heute sind wir
alle beteiligt am Wettkampf des Überflusses und des
zügellosen Konsums?
Wie konnte die Menschheit bis jetzt existieren, indem sie
die Habgierigen brandmarkte
und aussonderte, und jetzt ist sie in
Auflösung begriffen,
indem sie das Geld zum alleinigen und absoluten Wert
emporgehoben hat, dem zu Liebe alles gestattet sei?
Und ich glaube, dass ihr zustimmt,
dass wir für ein so wichtiges Thema
schon berechtigt sind, zu fragen:
warum und wie, oder gar wer, für
eine solche Entwicklung Schuld sei.
Und uns sollte niemand sagen, dass
alles von allein dazu kam, weil die Menschheit einfach alt wurde, vertrottelte
und in infantile, primitive Verhaltensweisen zurückgekehrt sei.
Heute steht die Menschheit vor einer
beispiellosen Realität
und, meines Erachtens, einer beispiellosen Bedrohung.
Wir haben die weltweite, einheitliche,
totale und undiskutable
Hegemonie eines ökonomischen, gesellschaftlichen und
politischen Systems, das auf einem einzigen Wert basiert:
dem Geld,
das alle anderen Werte, an die wir bis jetzt
geglaubt haben, ersetzt hat.
Die Fundamente unserer Zivilisation
(Begriffe wie: Liebe, Ethik,
Logik, Freiheit), die wir als unerschütterlich erachteten, weil wir,
um sie aufzubauen, Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende,
gebraucht hatten, sind umgestürzt.
An deren Stelle gilt nur eine
einzige Lehre:
"Das Geld ist das Maß aller Dinge".
Ich werde keine Kommentare bezüglich des moralischen
und kulturellen Wertes dieses Systems machen.
Ich bin sicher, dass ihr diese Kommentare
schon bei euch gemacht habt.
Es
beinhaltet in seinem Kern den Keim zur Katastrophe.
Zur eigener Katastrophe zuerst und
(anschließend)
auch der unsrigen, da wir unser Schicksal mit ihm
verknüpft haben.
Es führt uns zu dieser Katastrophe mit immer
größer werdender Geschwindigkeit
und möglicherweise sind wir schon
an dem Punkt angelangt,
wo wir, falls wir auch noch aufwachen würden, den totalen
Zusammenbruch nicht mehr abwenden können.
Grundprinzip der heutigen Denkweise ist, dass das Kapital
durch das Antreiben der ökonomischen
Entwicklung neues Kapital
"gebiert". Dazu braucht
der Besitzer des Kapitals gar nicht zu arbeiten.
Das
Kapital vermehrt sich von alleine.
Die logische Erklärung
dieses Standpunktes, und zugleich dessen ideologische und moralische
Rechtfertigung, basiert auf dem Begriff
des Wachstums.
Ohne Wachstum ist unser System undenkbar.
Das Kapital ist dasjenige,
was durch die
Investition
das Wachstum möglich macht, die erhöhte Produktion,
die erhöhten Gewinne.
Einen Teil der Gewinne behält
logischerweise der
Eigentümer des Kapitals, der Investor, für sich, der
nachher, ohne selbstverständlich gearbeitet zu haben,
über mehr Kapital als zuvor verfügen wird.
Ich überlasse es euch, die moralische Seite dieser
These zu beurteilen.
Ich
werde mich begnügen, durch ein einfaches
unterhaltsames mathematisches Spielchen, eine Frage über
die Zukunft eines solchen Systems zu stellen.